Der Grund, morgens aufzustehen oder Weil man das so macht, ist nicht genug

By Marita Matzk | Training im Alltag

Einer meiner Yogakurs-Teilnehmer bietet Workshops zum "Finden des Ikigai" an.*

Er erklärte mir, dass Ikigai aus dem Japanischen kommt und frei übersetzt für den Lebenssinn steht:
 „Das, wofür es sich zu leben lohnt“ oder  „das Gefühl, etwas zu haben, für das es sich lohnt, morgens aufzustehen“.

Das ließ mich den ganzen Tag nicht los: Der Grund, morgens aufzustehen. Was für eine geniale Formulierung für ein lebenswertes, nicht in Beton gegossenes, sondern stets aktualisierbares und von der Meinung anderer unabhängiges Lebensziel.

Was können wir von dieser Formulierung lernen? Welche Faktoren machen sie vermutlich wesentlich zufriedenstellender ist als andere gefasste Ziele?

Erkenntnis Nr. 1: Mein Antrieb muss nicht der gleiche sein wie der meines Nachbarn

Ein Lehrer steht morgens gern auf, weil er es liebt, vor der Klasse zu stehen und die Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu spüren. Ein anderer brennt vor allem für sein Fach und weiß, wie wichtig dieses Wissen für seine Schüler ist. Ein dritter kommt in seinen persönliches Flow-Erleben, wenn er die Herausforderung einer "Problemklasse" spürt und sein Führungstalent nutzt, um die Schüler zu "kriegen" und zu begeistern. Alles sind gute Gründe, jeden Morgen aufzustehen, und alle oben Beschriebenen können gute Lehrer und glückliche Menschen sein.


Ich selbst habe Jahre gebraucht, um herauszufinden, dass mein Wunsch, Tänzerin zu werden, nicht darauf beruhte, ein möglichst schöner Schwan im Corps de Ballet zu sein oder besonders gute (oder auch besonders gut geförderte ;-)) Kunst zu machen. Mein Antrieb war, mich bewegen zu können wie ein große Katze. Seit ich das in den Mittelpunkt meines Lebens rücke und weitergebe, ist das Aufstehen viel leichter…

Erkenntnis Nr. 2: Nur ein emotional bewegendes Ziel ist ein vernünftiges Ziel

Wann lernt ein Kind am besten? Wenn der Lernprozess positiv emotional unterlegt ist, also Freude oder Begeisterung auslöst. Wie motiviert man ein Kind am wirkungsvollsten? Indem man etwas vorschlägt oder Dinge so formuliert, dass sie… na? Freude und Begeisterung auslösen. Warum sollte das bei Erwachsenen anders sein?

Um uns schwungvoll und freudig aufstehen zu lassen, kann Ikigai also nur etwas sein, das uns emotional positiv bewegt.

Zielfindung upside down: Wie möchte ich mich fühlen?**

Erkenntnis Nr. 3: Weil man das so macht, ist nicht genug

Ein Problem haben dagegen alle, die allmorgendlich aufstehen, "weil man das eben so macht". Um nach einigen Jahren festzustellen, dass sie kaum noch gute Laune oder richtig viel Energie verspüren. Alle, deren Körper vielleicht bereits die Bremse zieht: häufiger krank werden, sich verspannt und steif fühlen…

Ein Leben ohne Ikigai ist eine Fahrkarte in Richtung Burnout.

Erkenntnis Nr.4: Lebensgrund ist nicht gleich Lebenswerk

Befragt man Menschen nach dem Sinn des Lebens, werden gern Ideen genannt, die mit dem Lebenswerk zu tun haben - dem, was man leistet und der kommenden Generation zurücklässt. Sicher kann eine solche Vision ein Antrieb zum Aufstehen sein - in der Lebensphase, in der man daran arbeitet. Aber was ist hinterher? Vergangene Erfolge oder was andere nun, nach dem Doktortitel oder dem veröffentlichten Buch, über mich denken, sind heute doch kein Grund mehr aufzustehen?

 Daraus folgt:

Erkenntnis Nr. 5: Jeder Tag braucht Ikigai

Als Kind braucht man den Grund zum Aufstehen genauso wie als Mensch im Ruhestand. Er kann und wird sich verändern. Manche Menschen brauchen z.B. öfter neue Jobs und Aufgaben als andere, weil ihr Ikigai etwas Übergreifenderes wie "Probleme lösen" oder "etwas zur Meisterschaft bringen" ist. ***


Jeder Mensch muss sein Ikigai Tag für Tag wieder finden oder bestätigen.
 Vielleicht hilft es schon, das zu wissen - um sich im Zweifelsfall immer wieder auf die Suche zu begeben.

Erkenntnis Nr 6: Der Grund aufzustehen -  abseits vom Job

In einem Interview mit Michael Born**** beschrieb die CantienicaYoga-Gründerin Benita Centieni, wie glücklich sie jeden Tag aufwacht, in ihren Körper hineinspürt und im Spüren und Bewegen ganz bei sich ankommt. Im Alter von 67 Jahren ist sie ihrem Ikigai näher als in ihrer Jugend, in der sie den Kontakt zum Körper verloren hatte.

Ich selbst habe vor ein paar Jahren ein ähnliches Morgenritual für mich entdeckt: Jeden Morgen dehne und räkle ich mich als allererstes ganz bewusst, lausche dem Rhythmus meines Atems und lasse ihn für ein paar Atemzüge länger und tiefer werden. Seither ist meine innere Verweigerungshaltung gegenüber dem Aufstehen mit Wecker verschwunden . Das ganze dauert keine drei Minuten und verändert die morgendliche Geisteshaltung von "müssen" zu "wollen, dürfen und dankbar sein"*****.

 Der Grund aufzustehen muss also keinesfalls im Job liegen. Es kann alles sein, worauf du dich freust und worin du ganz aufgehst: mit einem lieben Menschen kuscheln, sich schick und stolz fühlen in der schönen Bluse, die Vorfreude auf bewusst genossene kleine Auszeiten - eine Tasse Kaffee-Tee in der Hand, Sonne oder Wind im Gesicht und den Rhythmus des Lebens im eigenen Atem spürend…

Was ist dein Grund, morgens aufzustehen? Was sind deine Erfahrungen, Wünsche und Gedanken?
Hinterlasse gern einen Kommentar oder teile den Artikel mit Freunden.

Herzliche Grüße
Marita

* Wer Lust hat, tiefer in seinen Ikigai-Findungsprozess einzutauchen, dem sei der Workshop mit Thomas Hönel empfohlen. Infos über:
https://thomashoenel.de

** Für die Suche nach sinnvollen, emotional begründeten Zielen, hier 2 Buchempfehlungen:

Barbara Stanny unterscheidet in ihrem Buch Sacred Success zwischen Zielen, welche dem Ego entspringen, und Zielen, die der Seele entspringen.
 Das Ego sind alle Prägungen, die uns angstvolle Entscheidungen treffen lassen: z.B. aus Sorge, eine Chance zu verpassen, jemanden zu enttäuschen, komisch angesehen zu werden.Entscheidungen der Seele führen uns in Situationen, in denen wir bei uns ankommen und uns fühlen, als wären wir "genau hierfür geboren".

Um den "Zielen der Seele" näher zu kommen, finde ich die Methode von Danielle LaPorte hilfreich: Als Ziel das Gefühl zu formulieren, das man haben will.
Also nicht "Ich möchte einen Doktortitel haben", sondern "Ich möchte mich stark und fähig fühlen" - oder was auch immer der Doktortitel an Gefühlen in einem auslöst. Willkommen auf dem Weg Vom Haben zum Sein - und damit eigentlich beim dritten Buch, dem Klassiker von Erich Fromm ;-)…

*** sogenannte Scanner-Typen, vgl. Barbara Sher, Du musst dich nicht entscheiden, wenn du 1000 Träume hast

**** https://heilungskongress.de/
veranstaltet von Rosa Grafe und Michael Born / www.acroyogadresden.de

***** … übrigens nach einer Empfehlung der StralaYoga-Gründerin Tara Stiles: Danke Tara 🙂

  • Dorothea Matzk sagt:

    Eben alles gelesen, sehr informativ, Grüße!

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